Prolog: Der Tag, an dem der Joghurt verschwand
Es war einer dieser typischen Montage in den stylischen Räumlichkeiten einer jungen, aufstrebenden und dynamischen Digitalagentur in Leipzig. Emelie, seit der Unternehmensgründung vor drei Jahren Entwicklungsleiterin, stand vor dem Bürokühlschrank und starrte ungläubig auf die Lücke im mittleren Fach. Ihr handgeschriebener Zettel “Bitte stehen lassen – Experiment für das All-Hands-Meeting! – Eure Emelie” war noch da. Der Joghurt darunter nicht mehr.
Was Emelie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Dieser verschwundene Joghurt würde der Auslöser für eine der interessantesten Kulturtransformationen in der jungen Unternehmensgeschichte werden.
Die Kühlschrank-Metapher
“Wissen Sie”, erzählt Emelie heute, drei Jahre später, auf Konferenzen, “manchmal braucht es einen verschwundenen Joghurt, um zu verstehen, wie Kultur wirklich funktioniert.” Sie lacht, während sie die Geschichte erzählt, wie aus einem frustrierenden Moment eine komplette Neuausrichtung des Unternehmens entstand.
Der besagte Joghurt war nämlich kein gewöhnlicher Joghurt. Er war Teil eines geplanten Experiments für das anstehende All-Hands-Meeting. Emelie hatte in jeder Küche des sechsstöckigen Gebäudes einen identischen Bio-Joghurt platziert, mit der gleichen Notiz versehen. Sie wollte demonstrieren, wie unterschiedlich die Kulturen in den verschiedenen Abteilungen waren.
Die unerwartete Entdeckung
Das Ergebnis war verblüffend: Im Marketing-Stockwerk war der Joghurt noch da, ergänzt um weitere Notizen mit kreativen Ideen, worum es bei dem Experiment gehen könnte. In der IT-Abteilung hatte jemand einen detaillierten Prozessvorschlag für Kühlschranknutzung daneben gehängt. Im Sales-Bereich war der Joghurt durch drei neue ersetzt worden – mit einer Notiz “Invest in Future Growth! ;)”. Und in Emelies eigener Entwicklungsabteilung? Dort war er spurlos verschwunden.
“In diesem Moment wurde mir klar”, erzählt Emelie, “dass wir hier ein perfektes Abbild unserer Unternehmenskultur hatten. Nicht die, die in unseren Hochglanzbroschüren stand, sondern die, die wir tatsächlich lebten.”
Die Illusion des großen Wurfs
Zur gleichen Zeit, als Emelies Joghurt-Experiment unbeabsichtigt Gestalt annahm, bereitete die Geschäftsführung gerade eine große Kulturinitiative vor. PowerPoint-Präsentationen wurden erstellt, externe Berater engagiert, Workshop-Konzepte entwickelt. Kostenpunkt: mehrere hunderttausend Euro.
Dominik, der Co-Founder und CEO, erinnert sich: “Wir waren überzeugt, dass wir für die nächste Wachstumsphase des Unternehmens einen großen Wurf brauchten. Etwas Beeindruckendes, das zeigt, wie ernst es uns mit dem Kulturwandel ist. Und dann kam Emelie mit ihrer Joghurt-Geschichte in mein Büro…”
Die Mikrokultur als Schlüssel zum Wandel
Was folgte, war eine fundamentale Neuausrichtung des Transformationsansatzes. Statt eines großen Change-Programms begann das Unternehmen, die kleinen Dinge zu beobachten und zu verstehen.
“Wir haben angefangen, Geschichten zu sammeln”, erzählt Maria aus der HR-Abteilung. “Geschichten über Kühlschränke, über die Nutzung der Meetingräume, über die Art, wie Menschen sich grüßen oder nicht grüßen. All diese kleinen Momente, die unseren Arbeitsalltag ausmachen.”
Die Geschichte von Abteilung 4B
Eine dieser Geschichten wurde legendär: Die Entwickler in Abteilung 4B hatten eigene “Kühlschrank-Algorithmen” entwickelt. Ein kleines Programm berechnete die optimale Verteilung des Kühlschrankraums basierend auf Team-Größe, durchschnittlicher Verweildauer der Lebensmittel und historischen Nutzungsdaten. Was als scherzhafte Lösung begann, wurde zum Vorbild für andere Abteilungen – nicht wegen des Algorithmus, sondern wegen der dahinterstehenden Denkweise: Probleme kreativ und gemeinschaftlich zu lösen.
Was wir vom Kühlschrank lernen können
Die Geschichte der stillen Post
Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Bedeutung von Mikrokulturen ereignete sich in der Marketingabteilung. Dort hatte sich über Jahre eine Art “stille Post” entwickelt: Wichtige Informationen wurden nicht in Meetings oder per E-Mail geteilt, sondern während der gemeinsamen Mittagspausen am Kühlschrank. Wer nicht Teil dieser informellen Kommunikationskultur war, verpasste wesentliche Entscheidungen.
“Als wir das verstanden haben”, erzählt Marketing-Direktor James, “wurde uns klar, warum unsere formalen Kommunikationsstrategien oft scheiterten. Wir versuchten, eine Kultur von oben zu verordnen, während sich die echte Kultur längst ihre eigenen Wege gesucht hatte.”
Der Wendepunkt: Das “Kultur-Safari”-Projekt
Inspiriert von Emelies unbeabsichtigtem Experiment startete das Unternehmen das “Kultur-Safari”-Projekt. Teams aus verschiedenen Abteilungen wurden eingeladen, einen Tag lang in anderen Bereichen des Unternehmens zu “wildbeobachten”. Sie dokumentierten die kleinen, scheinbar unbedeutenden Interaktionen und Gewohnheiten.
Die Ergebnisse waren aufschlussreich:
Die Evolution einer neuen Herangehensweise
Die Geschichte der wandernden Wasserflaschen
Eine besonders erhellende Erkenntnis kam durch die “Geschichte der wandernden Wasserflaschen”. In einigen Abteilungen begannen Mitarbeiter, ihre Wasserflaschen mit zusätzlichen Etiketten zu versehen: “Bedien dich, wenn du möchtest – bring einfach morgen eine neue mit.” Was als einzelne Geste begann, entwickelte sich zu einer abteilungsübergreifenden Bewegung der Großzügigkeit.
“Das war der Moment, in dem wir verstanden, wie Kulturwandel wirklich funktioniert”, erinnert sich Co-Founder Robert. “Nicht durch Anweisungen von oben, sondern durch ansteckende Beispiele von unten.”
Die neue Kultur-Strategie
Basierend auf diesen Erkenntnissen entwickelte das Unternehmen einen völlig neuen Ansatz für kulturelle Transformation:
Der Joghurt-Effekt
Heute, drei Jahre nach dem verschwundenen Joghurt, hat sich vieles verändert. Die Kühlschränke sind immer noch da, und ja, gelegentlich verschwindet auch mal ein Joghurt. Aber die Art, wie damit umgegangen wird, ist eine andere.
“Letzte Woche”, erzählt Emelie schmunzelnd, “fand ich einen Zettel an meinem Joghurt: ‘Musste ihn leider essen – war in einem wichtigen Call und hatte nichts anderes. Hier ist der Ersatz plus einer extra für die Mühe. PS: Tolle Geschmacksrichtung!'”
Fazit: Die strategische Bedeutung des Kleinen
Der “Kühlschrank-Effekt”, wie er intern genannt wird, hat das Unternehmen grundlegend verändert. Nicht durch große Transformationsprogramme, sondern durch die aufmerksame Beobachtung und behutsame Entwicklung der vielen kleinen kulturellen Ökosysteme.
“Wissen Sie”, sagt CEO Dominik zum Abschluss unseres Gesprächs, “manchmal fragen mich andere Führungskräfte nach unserem Erfolgsgeheimnis. Sie erwarten komplexe Change-Management-Modelle oder innovative Führungsframeworks. Und dann erzähle ich ihnen von einem verschwundenen Joghurt. Die meisten verstehen erst nicht, worum es geht. Aber diejenigen, die es verstehen, sind diejenigen, die wirklich bereit sind für Veränderung.”
Eine nachhaltige kulturelle Transformation, so lehrt uns diese kleine fiktive Geschichte, beginnt nicht mit großen Ankündigungen, sondern mit der Fähigkeit, in den kleinen, alltäglichen Momenten die großen Muster zu erkennen und zu nutzen. Der verschwundene Joghurt wird so vom Ärgernis zum Kompass – er zeigt uns, wo wir auf dem Weg zu einer neuen Kultur stehen und wohin die Reise noch gehen muss.
Und Emelie? Sie hat übrigens nie herausgefunden, wer damals ihren Experimental-Joghurt gegessen hat. “Aber”, sagt sie lächelnd, “ich bin inzwischen fast dankbar dafür. Manchmal braucht es eben einen kleinen Diebstahl, um etwas Großes in Bewegung zu setzen.”
Verschwinden bei Ihnen auch Joghurt-Becher? Kennen Sie den Kühlschrank-Effekt auch? Wie sähe Ihr Transformationsansatz aus?
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Autor des Beitrags:
Jochen Schuchardt
Tel.: +49.211.73.065.365
Mail: j.schuchardt [a t] bildwerkk.de
Wir haben da schon mal was vorbereitet…
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